zurück zur Übersicht
 |    | 
  • News
  • Wirtschaft & Arbeitsmarkt

«Eine Biographie-Sensibilität seitens HR ist ausschlaggebend für gutes Recruiting.»

Im Rahmen ihrer neuen Studie befragt die plattform renommierte Expertinnen und Experten aus Wirtschaft, Bildung und Forschung zum Potenzial von New Work in der Gesellschaft. Im Interview spricht Milan Glatzer, wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Eidgenössischen Hochschule für Berufsbildung EHB, über Skills-basierte Organisationen und warum New Work für Blue-Collar-Arbeiten vielversprechend ist.

Sind neue Technologien eher förderlich oder hinderlich für menschenzentriertes Arbeiten?

Es kommt meines Erachtens stets darauf an, wie man eine Technologie anwendet. Das ist bestimmend für ihre soziale Qualität. Wir müssen somit abwarten, inwiefern sich «Künstliche Intelligenz» (KI) für die Menschen entwickelt, die in der Kreativ- und Wissensarbeit erwerbstätig sind, und ob dies menschenzentrierte Arbeit begünstigen wird. Sicherlich wird KI die Aufgaben zunehmend auf die Bedeutungszuschreibung von Wissen richten.

Was meinen Sie mit der «Bedeutungszuschreibung von Wissen»?

Mit der Entwicklung von KI zeichnet sich ab, dass wir bei vielem, was wir als «menschliches Hoheitsgebiet» betrachten, insbesondere die kognitive Kompetenz, nicht mehr die Besten sind. Es wird eine Übergangszeit geben, in der wir mit KI zusammenarbeiten. Doch zukünftig werden wir viele Bereiche abgeben. Die Frage ist, was das mit unserem Selbstbild macht, wenn KI selbst beispielsweise ein ziemlich gutes Fernsehskript schreibt oder auch in allen anderen kreativen Bereichen tätig ist. Deshalb könnte es zuerst einmal zu einer Krise kommen – zu einer Kränkung, aber danach wird es eine neue Definition von «menschlich» geben: Was können wir besser als KI? Und das wird vor allem im Bereich der Sinnzuschreibung sein. Der Mensch hat mehr kulturelles Kapital und hat deshalb auch mehr Ahnung, wenn es darum geht, Sinn zu formulieren und Erlebtes wiederzugeben. Um beim Fernsehskript zu bleiben, es wird immer noch den Menschen geben, der das Skript beurteilt. Je körperlich-emotional gefühlvoller es ist, desto einflussreicher auch die Rolle des Menschen. Und ich frage mich, ob wir uns in Zukunft auch darüber definieren werden.

«Mit der Entwicklung von KI zeichnet sich ab, dass wir bei vielem, was wir als «menschliches Hoheitsgebiet» betrachten, insbesondere die kognitive Kompetenz, nicht mehr die Besten sind.»

Wie sieht der Weg zur New Work aus?

Für den Weg hin zu einer menschenzentrierten Arbeit, bedarf es einer konzeptionellen Erweiterung des Arbeitsbegriffes, in dem man die Entlohnung und die Arbeit trennt. Der Lohn wird bisweilen als Anreizsystem instrumentalisiert, um Menschen zur Ausübung bestimmter Tätigkeiten zu bewegen. Dass Entlohnung jedoch unter Umständen einen limitierten Einfluss auf den Sinngehalt einer Tätigkeit ausüben kann, wird kaum berücksichtigt. Der Sinn einer Arbeit wiederum ist unabdingbar für eine menschenzentrierte Arbeit, sodass dieser Aspekt im Zentrum von New Work stehen sollte.

Ist Skills-Based-Hiring, also die Rekrutierung nach Fähigkeiten statt nach Ausbildungen und Erfahrungen, ein Weg aus dem Fachkräftemangel oder ein Wandel zu menschenzentrierter Arbeit?

Sowohl als auch: Skills-Based-Hiring befasst sich schwerpunktmässig mit bereits erworbenen Kompetenzen und verankert damit die Wertigkeit der Bewerber:innen mit ihrer Vergangenheit. Ein nachhaltiger Wandel zu menschenzentrierter Arbeit würde mehr nach den Potenzialen und Motivationen von Menschen fragen und dabei die in der Vergangenheit erworbenen Kompetenzen als Erfahrungsraum berücksichtigen. Durch eine zukunftsorientierte Betrachtung von Menschen und damit verbundenen Investitionen, lässt sich dem Fachkräftemangel entgegenwirken.

Wo sehen Sie Probleme bei personenzentrierten Massnahmen wie z.B. Persönlichkeitstests bei Rekrutierung?

Wenn Persönlichkeitstests mit Sorgfalt durchgeführt sind, sehe ich mehr Potenzial als Probleme. Die grösste Herausforderung in Rekrutierungsprozessen ist es, strukturelle Diskriminierungsmechanismen nicht zu reproduzieren. Je nach Technologie vermag KI diesen Umstand zu verstärken oder entgegenzuwirken. Das gleiche gilt für Persönlichkeitstests. Am Ende ist eine Biographie-Sensibilität seitens HR ausschlaggebend für gutes Recruiting.

Ist New Work nur für White-Collar-Worker* möglich?

Nein. New Work, das sich menschenzentriertem und selbstbestimmtem Arbeiten verschreibt, ist für Blue-Collar-Worker vielversprechend. Im Bereich Gesundheitswesen und Pflege hat sich z.B. mit dem niederländischen Modell Buurtzorg gezeigt, dass durch selbstorganisierte Strukturen mit flacheren Hierarchien das Erfahrungswissen der Arbeitnehmer:innen effizienter zum Einsatz gelangt. Ein Grund, weshalb in Blue-Collar-Arbeiten New Work nicht so sehr diskutiert wird, ist die fehlende Anerkennung von Erfahrungswissen und ihr dadurch erlangter Status als minderwertig gegenüber standardisiertem Wissen. Gerade in einer zunehmend dynamischen Arbeitswelt wäre es konsequent, diesem nicht standardisierbaren Wissen mehr Anerkennung zu geben.

«Die Implementierung von New-Work-Strukturen in Blue-Collar-Jobs ist auch dahingehend vielversprechend, als dass sie die Debatte auf das Wesentliche zurückzuführen vermag – Weg von Home-Office-Themen hin zu Themen menschlichen Zusammenarbeitens.»

*White-Collar vs. Blue-Collar: Unter dem englischen Begriff «White Collar» (deutsch: weisser Kragen) versteht man Arbeitnehmende, die im Wissensbereich tätig sind und im Büro arbeiten. Bei «Blue Collar» (deutsch: blauer Kragen) spricht man von handwerklichen und praktischen Berufen.

 

Jahresthema 2023: New Work

Gemeinsam mit zahlreichen Expertinnen und Experten erkundet die plattform im Jahr 2023 das Potenzial von New Work in der heutigen Gesellschaft und identifiziert allfälligen Handlungsbedarf für Politik und Wirtschaft. Bei diesem Interview handelt es sich um einen Auszug aus dem Gespräch mit Milan Glatzer. Ein vollständiger Ergebnisbericht sowie konkrete Policy-Empfehlungen werden im Winter 2023 vorliegen.

Zur Person

Milan Glatzer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Eidgenössischen Hochschule für Berufsbildung EHB, die zentrale schweizerische Bildungseinrichtung für die Berufsbildung in Trägerschaft des Bundes. In Australien hat er als Schweissergehilfe gearbeitet, bevor er in Freiburg den Bachelor in Liberal Arts and Sciences mit einem Schwerpunkt in Cultural Studies abgeschlossen hat. Im anschliessenden Studium der Soziologie in Frankfurt hat Glatzer eine Abschlussarbeit zu Subjektveränderungsprozessen von Erstakademiker:innen geschrieben. In seiner Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter hat er den Fokus auf informelle Lernpraktiken von Handwerker:innen gelegt.

nach oben