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«Wer seinen Job selbst gestaltet, stärkt Ressourcen»
Ein Drittel der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer fühlt sich gestresst. Dies zeigen zwei kürzlich erschienene Studien. Womit hat das zu tun?
Dies ist kein neues Phänomen. Seit gut 20 Jahren nehmen die Beschleunigung und Verdichtung der Arbeitsprozesse sowie die Konkurrenz unter den Firmen kontinuierlich zu. Eine gewichtige Rolle spielt unterdessen die alles durchdringende Digitalisierung. Wir kommunizieren noch schneller und sind praktisch immer erreichbar. Dadurch sind wir einem grossen Druck ausgesetzt, dem wir uns kaum entziehen können. Diese Entwicklung ist zunächst technikgetrieben. Aber Unternehmen reagieren mit unablässigen Reorganisationen und neuen Businessmodellen darauf. Teams sollten agil sein, und der Einzelne muss sich in neuen, selbstorganisierten Strukturen zurechtfinden. Mitarbeitende sollen mehr und mehr Verantwortung übernehmen. All diese Veränderungen können zu Unruhe, Unsicherheit und Überforderung führen. Viele Mitarbeitende kommen an ihre Grenzen und sind mit dem Selbstmanagement überfordert.
Wie können Unternehmen dem entgegenwirken?
Firmen sollten mehr Ruhe in das Ganze bringen und überlegt agieren, nicht jedem Hype unkritisch folgen. Welche Formen von Flexibilisierung und Agilität sind sinnvoll? Welche Trends müssen wir nicht unbedingt mitmachen? Was genau bringt eine Veränderung? Solche Fragen sollten handlungsleitend sein. Es braucht mehr Gelassenheit. Die Unternehmen müssen auch schauen, wie es den Mitarbeitenden geht, ihr Befinden regelmässig abfragen und gegebenenfalls Massnahmen zur Verbesserung der Arbeitssituation ergreifen.
Wird das gemacht?
Es gibt einen Trend zu mehr Gesundheitsmanagement im Betrieb, weil die Unternehmen wahrnehmen, dass ihre Leute zunehmend unter Druck sind. 80 Prozent der Führungskräfte sind laut einer repräsentativen Studie besorgt über das Stresserleben ihrer Mitarbeiter und wollen darauf reagieren.
Auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter tragen Verantwortung. Welche Möglichkeiten haben sie im Umgang mit Stress?
Wichtig ist der Lebenswandel. Dazu gehören Bewegung, eine gesunde Ernährung, genügend Schlaf und ganz allgemein die Beachtung der Work-Life- Balance. Dies alles erfordert ein hohes Mass an Selbstorganisation. Gerade in Berufen, in denen die Menschen relativ flexibel arbeiten können, ist die freie Arbeitsgestaltung möglich, aber auch anspruchsvoll. Der Druck in der Arbeitswelt lässt sich nicht kleinreden. Was tun? Man sollte den eigenen Job aktiv mitgestalten, also nicht nur auf Stress reagieren. Man spricht von Job Crafting. Bei unrealistischen, zu hoch gesetzten Zielen ist es hilfreich, dies dem Vorgesetzten zu kommunizieren – frühzeitig das Gespräch zu suchen und Prioritäten neu zu setzen. Job Crafting heisst aber auch, die eigenen Aufgaben gestalten, also nicht nur Aufträge ausführen, sondern mitdenken und eigene Wege gehen. Mann kann auch wichtige soziale Ressourcen wie Unterstützung bei Problemen oder vermehrtes Feedback einfordern.
Die Flexibilisierung der Arbeit nimmt zu. Zwei parlamentarische Initiativen wollen die Arbeitszeitregelung lockern. Worauf muss man aus gesundheitlicher Sicht bei der Flexibilisierung achten?
Wir sprechen immer von der Flexibilisierung der Arbeitszeiten, es bleibt dabei aber offen, was wir damit meinen. Es ist ein grosser Unterschied, ob ich selbstbestimmt flexibel arbeite, oder ob das Unternehmen die Flexibilität definiert. Wenn die Selbstbestimmung hoch ist, stärkt das mein Autonomieerleben. Denn ich kann Einfluss darauf nehmen, wie ich die Arbeit gestalte, kann beispielsweise eine grössere Pause machen, wenn ich sie brauche, und anschliessend wieder produktiv sein.
Besteht bei grosser Autonomie nicht auch die Gefahr der Selbstausbeutung?
Das ist schon so. Menschen mit flexiblen Arbeitszeiten arbeiten durchschnittlich länger und wohl auch intensiver. Wer sich zudem unrealistisch hohe Ziele setzt oder gesetzt bekommt und deshalb regelmässig bis tief in die Nacht und am Sonntag arbeitet, läuft Gefahr, in einen Erschöpfungszustand zu geraten. Wenn ich bei der Gestaltung meiner Arbeit sehr frei bin, muss ich merken, wann es zu viel ist und Grenzen ziehen – auch wenn die Aufgaben faszinierend sind und ich mich vermeintlich nicht überfordere. Viele Menschen merken das zu spät. Eine ausgewogene Work-Life-Balance verlangt auch Achtsamkeit, im Sinne von: Ich könnte noch lange arbeiten, weiss aber, dass mir ein Unterbruch, eine andere ausgleichende Tätigkeit nun guttut.
Der Barometer «Gute Arbeit» hat gezeigt, dass zum Teil die Unternehmen die Flexibilisierung der Arbeit bestimmen und nicht die Arbeitnehmer. Wie wirkt sich das auf die Gesundheit aus?
Wenn Unternehmen kurzfristig bestimmen, wann Mitarbeitende wie viel zu arbeiten haben, beeinträchtigt das ihre Autonomie als wichtige Ressource bei der Arbeit. Zudem wird ihre Work-Life-Balance beeinträchtigt, da sie ihr Familienleben und ihre Freizeitgestaltung immer wechselnden Arbeitszeiten anpassen müssen. Die Erholung wird schwierig, weil die Arbeitnehmenden unablässig in einem Bereitschaftsmodus sind und kaum noch von der Arbeit abschalten können.
Welche anderen Faktoren wirken sich auf die Gesundheit aus?
Arbeitszeiten geben ja nur darüber Auskunft, wann und wie viel man arbeitet. Ebenso entscheidend für die Gesundheit ist die Qualität der Arbeit. Hier geht es um eine gute Balance von Ressourcen und Belastungen bei der Arbeit. Typische Belastungen sind hoher Zeitdruck, unklare Rollen, Unterbrechungen oder Überforderung. Zentrale Ressourcen sind sinnvolle Aufgaben, Gestaltungsmöglichkeiten und vor allem ein gutes soziales Umfeld mit gegenseitiger Unterstützung.
Sind Sinn und Motivation wichtig?
Sinn und Motivation bedingen einander. Wer seine Arbeit als sinnvoll erlebt, ist auch motiviert. Es ist daher wichtig, den Mitarbeitenden sinnvolle Jobs zu geben beziehungsweise sie darin zu unterstützen, den Sinn der Aufgaben zu erkennen. Sinnvolle Arbeit führt eher dazu, dass ich mich mit den Aufgaben identifiziere, Spass habe und auch mal Flow erlebe. Zudem ist die Wahrscheinlichkeit geringer, dass ich in einen Erschöpfungszustand komme.
Wie entwickeln sich die Jobs?
Es ist eine Aufsplittung zu erwarten. Einerseits führt die Digitalisierung zu immer anspruchsvolleren Tätigkeiten, die tendenziell als sinnvoll erlebt werden. Andererseits haben wir weiterhin sehr viele Routinejobs, die weniger erfüllend sind. Studien zeigen allerdings, dass immerhin gut 80 Prozent der Befragten ihre Arbeit als sinnvoll erleben – und zwar über alle Berufsgruppen hinweg.
Wenn man über Gesundheit am Arbeitsplatz spricht, ist auch die Ergonomie ein Thema.
Bei der Ergonomie im engeren Sinne, der Gestaltung des einzelnen Arbeitsplatzes, bewegen wir uns in der Schweiz auf hohem Niveau. Wichtig ist aber auch das Gesamtsystem. Wie sind die Arbeitsplätze untereinander angeordnet? Kann ich störungsfrei arbeiten? Gibt es unterschiedliche Zonen für unterschiedliche Aufgaben und Bedürfnisse? Da sehe ich grosse Unterschiede. Die Arbeitsplatzorganisation bildet auch unterschiedliche Kulturen ab. Früher dominierten die Einzelbüros, was die Kommunikation und Kooperation beeinträchtigen kann. Heute gibt es vermehrt Grossraumbüros, welche den Austausch erleichtern und die Flexibilität der Mitarbeitenden fördern sollen. Wegen des möglichen Störungspotenzials werden diese im Idealfall kombiniert mit Meeting- und Rückzugszonen, wo man kreativ oder konzentriert arbeiten kann. Wichtig ist: Unternehmen sollte eine Arbeitsplatzorganisation nicht top down verordnen, sondern gemeinsam mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern entwickeln. Das erhöht die Akzeptanz.
Welchen Einfluss hat Homeoffice auf die Gesundheit?
Homeoffice kann die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben begünstigen, sofern es mit dem Arbeitgeber klar geregelt ist und es gelingt, die beiden Bereiche voneinander abzugrenzen. Unsere Forschung hat gezeigt, dass eine zu starke Durchmischung von Berufs- und Privatleben dazu führt, dass man weniger auf aktive Erholung achtet. Man bewegt sich möglicherweise weniger, kann nicht abstellen und schläft schlechter, was sich negativ auf die Gesundheit auswirkt.
In welche Richtung entwickelt sich das betriebliche Gesundheitsmanagement?
Die Lifestyle-Schiene ist nach wie vor verbreitet. Unternehmen unterstützen ihre Mitarbeitenden beispielsweise mit Fitness- und ausgewogenen Ernährungs-Angeboten. Im Trend ist das digitale Gesundheitsmanagement. Apps helfen mit, das eigene Verhalten und die Erholung zu überwachen. Bewege ich mich genügend? Bekomme ich genug Schlaf? Hinzu kommen Entspannungs- und Achtsamkeitstools. In der Zukunft könnten Kameras am Computer registrieren, wie wach jemand ist. Programme könnten anhand der Tonalität von E-Mails oder am Telefon das Stressniveau und die Freundlichkeit gegenüber Kunden analysieren. Hier verschwimmt die Grenze zwischen Feedback und Kontroll-Tools, daher sollte man bei ihrer Anwendung sehr zurückhaltend sein.
Führt das Monitoring des eigenen Verhaltens nicht zu zusätzlichem Stress?
Solche Tools sind lediglich ein Hilfsmittel für Personen, die im hektischen Alltag zu wenig auf ihre Befindlichkeit achten. Natürlich sollte man die Apps massvoll einsetzen. Wer sich durch sie gestresst fühlt, verzichtet besser darauf. Problematisch finde ich, wenn man solche Tools für ganze Teams in Kombination mit Wettbewerben einsetzt, um beispielsweise das bewegungsaktivste Team zu küren.
Zur Person
Georg Bauer ist Gesundheits- und Arbeitswissenschaftler und Leiter der Abteilung «Public & Organisational Health» an der Universität Zürich.