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«Die EU hat mehr Verhandlungsmacht als die Schweiz»
Wie würden Sie das institutionelle Rahmenabkommen mit der EU zusammenfassen?
Die beste Analogie, die ich bisher gehört habe, setzt das EU-Rahmenabkommen mit der Aktualisierung eines Betriebssystems gleich. Wenn ein Nutzer sein Betriebssystem nie updatet, dann laufen die Programme irgendwann nicht mehr, weil irgendwann alles für das neue System programmiert wird. Und so ist es mit den Bilateralen: Weil sich das EU-Recht laufend weiterentwickelt, werden sie irgendwann zu totem Recht, wenn sie nicht mehr aufdatiert werden. Das stellt langfristig ein Problem für die Wirtschaft dar, weil die Regulierungen auf Schweizer Seite nicht mehr mit den Regulierungen der EU übereinstimmen und so Produkte nicht mehr problemlos die Grenze passieren können.
Der Status quo ist also keine Option?
Man hört oft, wie gut doch der Status quo sei. Und das ist tatsächlich so: Die Bilateralen sind eine exzellente Lösung für die Schweiz. In diesem Punkt sind sich alle einig und deswegen stellen sich viele die Frage, ob man das EU-Rahmenabkommen wirklich braucht. Aber die EU wird in Zukunft ohne Rahmenabkommen die bilateralen Verträge nicht mehr aufdatieren, und dadurch entstehen dann eben zunehmende Hindernisse im bilateralen Verhältnis. Nichts zu unternehmen bedeutet also, dass man die Situation immer schlechter werden lässt. Daher ist der Status Quo keine Option.
Die EU lehnt den Status quo ab. Gleichzeitig scheint ihre Bereitschaft nachzuverhandeln limitiert…
Die Schweiz wird es sicher versuchen. Das entspricht auch den Positionen der meisten Konsultationspartner. Man darf aber nicht vergessen, dass der Vertrag, der uns heute vorliegt, das Ergebnis von fünf Jahren intensiven Verhandlungen ist. Die Ausgangsposition der EU war ursprünglich auch eine andere. Die Schweiz hat sehr gut verhandelt und sich viele Zugeständnisse ausgehandelt. Und die EU geht auch immer wieder auf die Schweiz zu. Nach den Terror-Attacken in Paris beispielsweise hat sich die EU entschieden, das Waffenrecht zu verschärfen. Die Schweiz ist durch das Schengen-Abkommen verpflichtet, diese Verschärfung ebenfalls umzusetzen. Sie hat aber ausgehandelt, dass für sie gewisse Ausnahmen gelten, welche die besondere Waffentradition der Schweiz (Stichwort Sturmgewehr) berücksichtigt. Es gibt nun also eine Verschärfung des Waffengesetzes auf europäischer Ebene. In der Schweiz ist diese Verschärfung jedoch viel weniger weitgehend als in anderen Staaten. An diesem Beispiel sieht man, dass die EU selbst in solchen Fällen von dynamischer Rechtsübernahme auf Schweizer Befindlichkeiten eingeht und sich dessen bewusst ist. Zu grosse Zugeständnisse, die Begehrlichkeiten in anderen Staaten wecken, möchte die EU jedoch vermeiden. Sie wird somit vermutlich bereit sein, über politische Deklarationen zu sprechen und einige Punkte aus dem EU-Rahmenabkommen zu präzisieren, aber an der Substanz wird sie meiner Meinung nach nicht mehr viel ändern.
Welche anderen Optionen liegen der Schweiz vor?
Eine Variante ist der Rückbau der aktuellen Beziehungen zur EU. Man würde weniger Marktzugang akzeptieren, weniger interagieren und sich schrittweise von der EU abkoppeln. Man kann dabei natürlich versuchen, sich auf aussereuropäische Partner zu stützen, wie es die Briten in ihrer Strategie des „Global Britain“ verfolgen und vermehrt mit China und den USA zusammenzuarbeiten. Dies ist im gegenwertigen Umfeld aber nicht so einfach. Zudem spielt Geografie beim Handel eine wichtige Rolle. Umso näher Staaten beisammen liegen, umso mehr wird gehandelt. Und die Schweiz liegt nun mal mitten in Europa, sodass die EU für die Schweiz immer der erste Ansprechpartner sein wird. Mehr als 50% unseres Handels gehen in der EU. Man kann die Beziehungen zur EU zwar zurückbauen, dies würde aber starke wirtschaftliche Konsequenzen mit sich ziehen.
Werfen wir einen Blick aufs andere Extrem: Die Schweiz kann ihre Beziehungen zur EU zurückbauen aber auch gemeinsam stark ausbauen.
Internationale Kooperation setzt immer einen gewissen Einschnitt in die Souveränität voraus, weil man sich an gemeinsame Regeln bindet und auf deren Einhaltung verpflichtet. Das ist wie beim Kauf eines Autos: Man verpflichtet sich dem Verkäufer gegenüber, ein Auto zu kaufen und etwas dafür zu bezahlen. Da kann man auch nicht plötzlich sagen, jetzt habe ich keine Lust mehr. Wenn man zugesagt und unterschrieben hat, muss man auch zu seinen Verpflichtungen stehen. So ist es auch bei internationalen Institutionen: Wir binden uns, um etwas gemeinsam bewirken zu können: mehr Wohlstand, mehr Sicherheit, mehr Kooperation. Es gibt viele Gründe, wieso Staaten miteinander kooperieren. Man nennt dies Kooperationsgewinn. Und der Preis dafür ist, in einem gewissen Masse Souveränität aufzugeben, weil sich Kooperation nur dann klappt, wenn sich alle Partner darauf verlassen können, dass sich alle an die gemeinsamen Regeln halten. Die Schweiz könnte beispielsweise Mitglied im EWR oder in der EU werden. Wenn die Schweiz dem EWR beitreten würde, würde sie sich noch mehr in ein institutionelles Gefüge begeben. Man könnte zwar von gewissen Vorteilen der EU profitieren, hätte aber auch weniger Mitspracherecht.
Weil wir den Status quo so wie er jetzt ist, nicht beibehalten können, wird es also entweder einen Rückbau oder einen Ausbau der Beziehungen zur EU geben. Dabei stellt sich die Frage: Wie stark wollen wir die Beziehungen zur EU ausbauen? Komplett im Sinne einer EU-Mitgliedschaft, relativ stark im Sinne einer EWR-Mitgliedschaft oder leicht im Sinne des aktuell vorliegenden institutionellen Abkommens?
Wie wahrscheinlich ist ein Ausbau der europäischen Beziehungen im aktuellen politischen Klima?
In der Schweiz gibt es dafür wenig Appetit. In Umfragen sagen etwa drei Viertel der Befragten, dass sie keinen EU-Beitritt der Schweiz wollen. Ein Grund dafür sind die Bilateralen, mit denen die Schweiz für sich bisher eine absolut massgeschneiderte Lösung ausgehandelt hatte, die viel Kooperation für eine verhältnismässig geringe Aufgabe von Souveränität ermöglicht.
Sind Neuverhandlungen des Rahmenabkommens wahrscheinlich?
Eine Neuverhandlung ist immer eine neue Situation: Wenn es Neuverhallungen gibt, kann man nicht davon ausgehen, dass wir da anfangen wo wir jetzt stehen, sondern dann kommen auch neue Forderungen der EU. Die Ausgangsposition der Schweiz wäre sicher schwächer. Erinnern wir uns an den Staatsvertrag mit Deutschland bezüglich des Anflugregimes des Zürcher Flughafens. Man hatte einen Vertrag ausgehandelt, der zwar gewisse Bedürfnisse der Schweiz berücksichtigte, aber nicht allen ihren Forderungen entsprach. Daraufhin hat die Schweiz hat den Staatsvertrag nicht unterschrieben. Die Konsequenz? Jetzt stehen wir ohne Vertrag da, der zu viel mehr Fluglärm in der Schweiz geführt hat, als es unter dem Kompromiss-Vertrag vorgesehen war. Ein Abbruch von Verhandlungen und allfällige Neuverhandlungen können also nicht ein besseres Resultat garantieren.
Im Mai 2019 fanden die Europäischen Parlamentswahlen statt; gefolgt von der Schweizer Parlamentswahlen im Oktober. Ist das doppelte Wahljahr ein Fluch oder ein Segen?
Das Wahljahr macht es auf Schweizer Seite nicht einfacher, da sich kaum ein politischer Akteur mit den sehr polarisierenden Europathemen aus dem Fenster lehnen möchte. Die Schweizer Strategie der letzten 15 Jahre war ja überspitzt gesagt: Wer Europa gut findet, redet nicht darüber, wer dagegen ist, schon. Daher sind Zugeständnisse kurz vor den eidgenössischen Wahlen schwieriger.
Aber auch die europäischen Parlamentswahlen haben den Prozess schwieriger gemacht. Die Mehrheit der EU-Bevölkerung, der EU-Parlamentarier und der Regierungen in der EU ist nach wie vor europafreundlich eingestellt. Für diese Mehrheit ist es in europaskeptischen Zeiten besonders wichtig, den Mehrwert der EU zu demonstrieren. Grosse Zugeständnisse an die Schweiz, die eine EU-Mitgliedschaft als verzichtbar erscheinen lassen, sind vor diesem Hintergrund nicht zu erwarten.
Was auch wichtig ist zu bedenken: Auch wenn die EU in der Schweizer Öffentlichkeit oft als undemokratisches Regime dargestellt wird, ist das nicht korrekt. Die EU hat ein eigenes Parlament, die EU-Kommissare werden von demokratisch gewählten Regierungen für die Kommission nominiert und vom Parlament ernannt. Die wichtigen Entscheide werden vom Europäischen Rat getroffen, in dem demokratisch gewählte Regierungschefs und Minister sitzen. Die EU hat also ihre eigenen Bürger und ihre Aufgabe ist es, für sie da zu sein und für sie grösstmöglichen Nutzen zu schaffen. Deshalb vertritt die EU in den Verhandlungen um das Rahmenabkommen auch ihre Position so vehement.
Können Sie etwas mehr auf diese Position eingehen?
Für die EU wird es immer wichtiger, zu demonstrieren, dass die EU klare Vorteile bringt und dass es für Nichtmitglieder keine Rosinenpickerei gibt. Die Personenfreizügigkeit ist beispielsweise in weiten Teilen der EU sehr beliebt, und eine Einschränkung wird von vielen Bürgern abgelehnt. In der Schweiz wird die Debatte dagegen aktuell von der Sorge dominiert, dass ausländische Arbeitskräfte Lohndruck ausüben könnten. Diese Angst sehen wir beispielsweise in der Debatte rund um die Reduktion der Voranmeldepflicht für entsendete Arbeitnehmer. Dabei ist zu beachten, dass die 8-Tage-Regelung Ende der 1990er Jahre verhandelt wurde – zu Zeiten, in denen man sich noch überhaupt nicht vorstellen konnte, wie sehr administrative Vorgänge einmal durch das Internet vereinfacht und beschleunigt werden würden. Nur weil man die Voranmeldepflicht von 8 auf 4 Tage verringert, heisst das also nicht automatisch, dass die Kontrollen schwächer sind. Zudem entspricht die Idee der neuen Entsenderichtlinie der EU entspricht den Schweizer Vorstellungen des Lohnschutzes, auch wenn die konkrete Umsetzung natürlich noch nicht ganz klar ist. Man muss also keine Angst davor haben, dass mit der neuen Entsenderichtlinie der Lohnschutz abgeschafft wird.
Das EU-Rahmenabkommen ist demnach ein zeitgemässer Kompromiss mit bestmöglichen Lösungen für beide Parteien. Ist eine Partei mehr auf die andere angewiesen?
Die Schweiz ist im Vergleich zur EU einfach der schwächere Verhandlungspartner. Zu denken, dass die EU uns mehr braucht, als die Schweiz die EU ist falsch. Die EU hat mehr Verhandlungsmacht als die Schweiz, weil sie den grösseren Markt hat Und weil die Schweiz gerne an diesem Markt teilhaben möchte, muss sie akzeptieren, dass die EU verlangt, dass in ihrem Markt alle nach den gleichen Regeln spielen. Wie sehr sie dabei der Schweiz in Zukunft entgegenkommen wird oder nicht und wie stark gewisse Ausgleichmassnahmen sein werden – das wissen wir heute nicht. Mit den Bilateralen ist die Schweiz bisher sehr gut gefahren. Diese wurden aber zu einem Zeitpunkt verhandelt, zu der die EU noch sehr grosszügig sein konnte und der Meinung war, die Schweiz würde irgendwann beitreten. Spätestens mit dem Rückzug des Beitrittsgesuches ist klar geworden, dass das nicht passieren wird. Bei den Verhandlungen rund um das EU-Rahmenabkommen ist die Ausgangslage jedoch anders: Die EU hat viel mehr Mitgliedstaaten, die traditionell weniger Verbindungen mit der Schweiz haben, sie kämpft viel mehr mit eigenen Problemen und sie weiss, dass ein EU-Beitritt der Schweiz nicht mehr geplant ist. Das macht die EU weniger grosszügig. Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass die Schweiz wirtschaftlich auf die EU angewiesen ist.
Zur Person
Prof. Dr. Stefanie Walter ist ordentliche Professorin für Internationale Beziehungen und Politische Ökonomie am Institut für Politikwissenschaft der Universität Zürich.