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«EU Richtlinien stellen sicher, dass die Bevölkerungen aller Mitgliedsstaaten gleichbehandelt werden. Das ist etwas Einzigartiges.»
Die Schweiz hat einen liberalen Arbeitsmarkt: Löhne, Arbeitszeiten, Gesundheitsschutz, Gleichstellung und Vereinbarkeit sind wenig reguliert. Wie ist die Situation in der EU? Wie werden diese Aspekte dort geregelt?
Ziele der EU-Politik in den letzten Jahrzehnten sind hohe Beschäftigungsraten und einen starken Sozialschutz zu erreichen, Lebens- und Arbeitsbedingungen zu verbessern und sozialen Zusammenhalt zu gewährleisten.
Im Bereich des Arbeitsrechts ergänzt die EU die Rechtssetzungsinitiativen der Mitgliedsstaaten durch Festlegung von sogenannten Mindeststandards. Während die einzelnen Mitgliedsstaaten auf Wunsch einen höheren Schutz vorsehen können (wozu wir sie stets anregen), müssen sich alle an die abgemachten Mindeststandards halten.
Im Sommer zum Beispiel hat eine EU Richtlinie neue Standards für Mindestlöhne festgelegt. Natürlich beinhaltet dies nicht einen Mindestlohn für alle Arbeiter in der EU, sondern Regeln, wie gesetzliche Mindestlöhne auf nationaler Ebene festgelegt, aktualisiert und durchgesetzt werden sollen. Zudem fordert die Richtlinie Mitgliedsstaaten auf, Aktionspläne festzulegen, um die Tarifbindung zu steigern, wenn die derzeitige Quote bei unter 80% liegt. Auch im Bereich Gleichstellung im Arbeitsmarkt und Gesundheitsschutz gibt es verschiedene EU Richtlinien, die Mindeststandards festlegen und somit einen vergleichbaren Ausgangspunkt für Arbeitnehmer schaffen.
Wie steht es um dem Lohnschutz: Wie stellen EU-Staaten mit höherem Lohnniveau sicher, dass es bei ihnen nicht zu Lohndumping kommt?
Lohnkonvergenz kommt besonders zwischen östlichen und westlichen Mitgliedsstaaten vor. Zwischen 2010 und 2021 stiegen die Löhne in Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Polen und Rumänien um 6% oder mehr und in Tschechien und der Slowakei um rund 4%, während sie in der EU-27 im Durchschnitt nur um 2% stiegen.
Die EU hat verschiedene Mechanismen eingerichtet, um diesen Prozess zu unterstützen. Die Kohäsionspolitik ist hier besonders wichtig. Sie trägt dazu bei, den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt in Europa zu stärken, indem sie Ungleichheiten im Entwicklungsniveau der Regionen abbaut. Der Schwerpunkt liegt auf Schlüsselbereichen, die der EU helfen, sich den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu stellen und global wettbewerbsfähig zu bleiben. Zwischen 2014 und 2020 wurden ungefähr 32,5% des EU-Haushalts, also etwa 351,8 Mrd. EUR, verschiedenen Finanzierungsinstrumenten zugewiesen, mit denen die Kohäsionspolitik unterstützt wird. Die Aufbau- und Resilienz Fazilität zum Beispiel unterstützt Massnahmen zur Förderung von Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit sowie zur Verbesserung der Rahmenbedingungen für Unternehmen. Ziel ist es, die europäischen Volkswirtschaften und Gesellschaften nachhaltiger und widerstandsfähiger zu machen und besser auf die Herausforderungen und die Chancen des ökologischen und digitalen Wandels vorbereitet zu sein.
Die EU hat auch verschiedene Initiativen zur Aufrechterhaltung gleicher Wettbewerbsbedingungen im Binnenmarkt und zur Förderung eines fairen Wettbewerbs auf der Grundlage hoher Sozialstandards, Innovation und Produktivität anstelle niedriger Löhne vorgeschlagen. So wurde beispielsweise die Europäische Arbeitsbehörde (ELA) eingerichtet, um sicherzustellen, dass die EU-Vorschriften zur Arbeitskräftemobilität und zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit gerecht und wirksam durchgesetzt werden. Darüber hinaus wurde die Richtlinie über die Entsendung von Arbeitnehmern überarbeitet, um die Anwendung des Arbeitsrechts des Aufnahmemitgliedsstaats im Falle einer langfristigen Entsendung sicherzustellen. Auch die kürzlich verabschiedete Richtlinie über angemessene Mindestlöhne wird die soziale Aufwärtskonvergenz fördern, indem die Angemessenheit des gesetzlichen Mindestlohns gestärkt wird.
Wie wird das EU-Regelwerk in Punkto Arbeit und Lohn in den Mitgliedsstaaten umgesetzt? Gibt es Unterschiede bei der Implementierung? Wer kontrolliert die Umsetzung und gibt es Sanktionen bei Nicht-Implementierung?
Sobald eine EU Richtlinie erlassen wurde, sind Mitgliedsstaaten verpflichtet, diese in nationales Recht umzusetzen. Die Kommission steht ihnen dabei regelmässig zur Seite.
Danach sind es die nationalen Behörden, wie zum Beispiel Aufsichtsbehörden und Gerichte, die für die Durchsetzung der Richtlinie sorgen. Möchten EU Bürger also ihr Recht einklagen, müssen sie sich zunächst an die Behörden und Gerichte im eigenen Land wenden. Sollte vor einem nationalen Gericht strittig sein, wie eine EU Richtlinie ausgelegt wird und anzuwenden ist, kann das Gericht, bei dem die Sache anhängig ist, diese dem Gerichtshof der Europäischen Union vorlegen. Der Beschluss des Gerichtshofs der EU auf die vorgelegten Fragen gilt sodann EU weit. Die Interpretationen des Gerichtshofs der EU sind von grosser Bedeutung und erlauben EU Richtlinien auch in Zeiten eines wechselnden Arbeitsmarkts stets aktuell zu bleiben.
Die EU Kommission hat als ‘Hüterin der Verträge’ die Aufgabe zu überprüfen, dass Mitgliedsstaaten geltendes EU Recht richtig in nationales Recht umgesetzt haben und dieses korrekt anwenden.
Ist die Kommission der Auffassung dies sei nicht der Fall, kann sie gegen den jeweiligen Mitgliedsstaat nach erfolgloser Ermahnung ein Vertragsverletzungsverfahren vor dem Gerichtshof der EU einleiten. Sollte der Gerichtshof der EU zu demselben Schluss kommen, verhängt er in der Tat Sanktionen gegen den jeweiligen Mitgliedsstaat, die anhalten, bis das EU Recht in Frage richtig umgesetzt wurde.
Ist es aus Ihrer Sicht zwingend, dass alle Teilnehmenden des EU-Binnenmarkts das EU-Regelwerk genau gleich umsetzen?
EU Richtlinien müssen nicht wortwörtlich, aber in jedem Fall sinngemäss umgesetzt werden. Für das EU Arbeitsrecht bedeutet dies, dass sich alle Mitgliedsstaaten an die vereinbarten Mindeststandards, die im EU Recht verankert sind, halten. So kann sichergestellt werden, dass die Bevölkerungen aller Mitgliedsstaaten gleichbehandelt werden. Das ist etwas Einzigartiges und fördert nicht nur den Zusammenhalt, sondern auch die Mobilität innerhalb der EU. Des Weiteren werden so auch einheitliche Wettbewerbsbedingungen im EU-Binnenmarkt garantiert.
Zudem gibt es zahlreiche positive Beispiele, in denen Mitgliedsstaaten über die verankerten Mindeststandards hinausgehen und den Menschen in ihrem Land einen noch besseren Arbeitsschutz ermöglichen. Dazu regt die Kommission die Mitgliedsstaaten allgemein immer an, denn unser höchstes Ziel ist es, die Lebens- und Beschäftigungsbedingungen der Menschen in Europa zu verbessern.
Was gibt es in Ihrem Bereich für Neuerungen und Pläne zur Verbesserung der Rahmenbedingungen für Arbeitnehmende?
Wie bereits erwähnt, wurde die EU Richtlinie zu Mindestlöhnen diesen Sommer beschlossen und wartet nun auf Umsetzung in nationales Recht (Frist: Oktober 2024).
Im August dieses Jahres endete ausserdem die Frist für die Umsetzung der Richtlinie über transparente und verlässliche Arbeitsbedingungen. Durch diese neuen Vorschriften haben Arbeitnehmer ein Recht auf mehr Vorhersehbarkeit bezüglich ihrer Arbeitsbedingungen (beispielsweise Arbeitsaufträge und Arbeitszeiten). Sie müssen nun auch ausführlicher über die wesentlichen Aspekte des Beschäftigungsverhältnisses, den Arbeitsort und die Entlohnung informiert werden.
Auch im August endete die Umsetzungsfrist für die Richtlinie zur Verbesserung der Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben in der EU. Die Richtlinie enthält Mindeststandards für Vaterschafts-, Eltern- und Pflegeurlaub. Sie legt ausserdem zusätzliche Rechte fest, wie zum Beispiel das Recht, flexible Arbeitsregelungen zu beantragen. So können Menschen ihre berufliche Karriere und ihr Familienleben besser unter einen Hut bringen.
Arbeitsbedingungen in der EU werden aber nicht nur durch Richtlinien vorangetrieben. Die im September 2022 von der Kommission vorgestellte Strategie für Pflege und Betreuung zum Beispiel hat auch zum Ziel, faire Arbeitsbedingungen und Berufsbildung für Pflegepersonal zu schaffen. Sie enthält Empfehlungen zu Tarifverhandlungen und sozialem Dialog, zur Einhaltung höchster Standards hinsichtlich der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes und zu Weiterbildungsangeboten für Pflege- und Betreuungskräfte.
Des Weiteren warten einige von der Kommission vorgeschlagenen EU Richtlinien auf Einigung und Annahme.
Der von Dezember 2021 stammende Vorschlag für eine Richtlinie zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der Plattformarbeit ist besonders interessant und auch im Sinne der Digitalisierung und des wandelnden Arbeitsmarkts wichtig. Durch diese EU Richtlinie möchte die Kommission sicherstellen, dass Menschen, die über digitale Arbeitsplattformen arbeiten, die ihnen zustehenden Arbeitnehmerrechte und Sozialleistungen in Anspruch nehmen können. Auch Schutz in Bezug auf die Verwendung des algorithmischen Managements, das heisst automatisierte Systeme, die Managementfunktionen bei der Arbeit unterstützen oder ersetzen, würde in der Richtlinie geregelt werden.
Im März 2021 hat die Kommission auch eine Richtlinie zur Lohntransparenz vorgeschlagen. So soll sichergestellt werden, dass Frauen und Männer in der EU gleiches Entgelt bei gleicher Arbeit erhalten. Es soll Arbeitgebern auch nicht mehr gestattet sein, Arbeitsuchende nach ihrer früheren Vergütung zu fragen. Darüber hinaus würden Arbeitnehmer Anspruch auf Entschädigung für Lohndiskriminierung haben.
Die EU-Führungspositionen-Richtlinie, die bereits 2012 von der Kommission vorgeschlagen wurde, ist nun auch kurz vor der Ziellinie und wartet auf die förmliche Annahme der EU-Gesetzgeber. Die Richtlinie schreibt Unternehmen mit mehr als 250 Arbeitnehmern vor, dass sie bis Mitte 2026 mindestens 40% der nicht geschäftsführenden Vorstandssitze oder 33 Prozent aller Vorstandsposten mit Frauen besetzen müssen.
Zur Person
Joost Korte wurde am 16. März 2018 zum Generaldirektor der Generaldirektion Beschäftigung, Soziales und Inklusion ernannt. Zuvor war der Niederländer stellvertretender Generaldirektor in der Handelsabteilung der Kommission. Er verbrachte auch mehrere Jahre im Generalsekretariat als Direktor für die Beziehungen zum Ministerrat und hat Erfahrungen in den Kabinetten von Sir Leon Brittan, Chris Patten und Danuta Hübner gesammelt. So konnte er ein tiefes Verständnis für die EU-Entscheidungsfindung entwickeln. Der gelernte Jurist trat 1991, nachdem er acht Jahre mit wissenschaftlichen Arbeiten zum Europarecht an den Universitäten von Utrecht und Edinburgh verbracht hat, in der Kommission ein.